Wie kann proaktives Management multipler Krisen gelingen?

Ein Bericht aus dem Projekt „Krisenradar“
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Siegfried Behrendt | 12. April 2022

Ob Coronapandemie, Klimawandel, Flüchtlingskrise, soziale und internationale Konflikte, Finanzkrisen, (Cyber-)Terrorismus oder drohende Ressourcenknappheit: In einer sich zunehmend vernetzenden Welt sehen sich Gesellschaften, aber auch Parlamente und Regierungen einer beispiellosen Vielfalt von Herausforderungen ausgesetzt. Das Projekt „Krisenradar – Resilienz von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft durch Krisenvorhersage stärken“ untersucht, wie ein kontinuierliches vorausschauendes Krisenradar gestaltet und institutionell verankert sein müsste, um ein früh- bzw. rechtzeitiges Krisen- und Risikomanagement zu ermöglichen.

Ein Schwerpunkt der bisherigen Arbeiten im TAB-Projekt diente der Aufarbeitung der Erfahrungen mit Frühwarnsystemen in der aktuellen Coronapandemie. Sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene gibt es eine ganze Reihe verschiedener Frühwarnsysteme, die von der WHO und der EU, von einzelnen Regierungen, von Forschungsplattformen und auch von global agierenden Unternehmen betrieben werden. Neben kennzahlenbasierten Systemen kommen indikatorenbasierte Systeme sowie strategisch ausgerichtete, zum Teil auch integrativ miteinander verbundene Frühwarnsysteme zum Einsatz, die mittels unterschiedlicher Zielstellungen, Verfahren und Technologien frühzeitig potenzielle Bedrohungen und Risiken identifizieren sollen. So betreibt die WHO betreibt beispielsweise die Frühwarnsysteme Global Influenza Surveillance and Response Systeme (GISRS), Global Outbreak Alert and Response Network (GOARN), Global Public Health Intelligence Network (GPHIN), Program for Monitoring Emerging Diseases (ProMED-Mail), Event Information Site (EIS) sowie Epidemic Intelligence from Open Sources (EIOS). Die einzelnen Systeme erfüllen jeweils unterschiedliche Funktionen und sind mit verschiedenen regionalen und staatlichen Systemen verbunden, um nationale Datenbestände für eine globale Einschätzung der WHO zu aggregieren. Mit der Digitalisierung und den Zugriffsmöglichkeiten auf massenhafte Daten für epidemiologische Frühwarnsysteme bieten sich erweiterte Möglichkeiten, neue Erhebungs-, Auswertungs- und Modellierungsverfahren – wie etwa die künstliche Intelligenz (KI) – zu nutzen und dadurch sehr frühzeitig Hinweise auf Krankheitsausbrüche mit  pandemischem Potenzial zu generieren. Diese neuen technischen Möglichkeiten werden im TAB-Projekt genauer beleuchtet .

Ein weiterer Schwerpunkt des TA-Projekts widmet sich den systemischen Risiken, mit denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland zukünftig konfrontiert werden könnten. Systemische Risiken sind schwer voraussehbar, komplex, was ihre Auswirkungen betrifft, stark miteinander verbunden und durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen mit unbekannten Kipppunkten gekennzeichnet. Bedrohungen frühzeitig zu erkennen, ist deshalb sowohl für die Verhinderung als auch für die Bewältigung von tiefgreifenden Krisen von zentraler Bedeutung und wesentlicher Bestandteil einer Strategie zur Steigerung der Resilienz von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Neben dem Aufzeigen möglicher systemischer Risiken, mit deren möglichen Eintreten gerechnet werden muss, wird im Projekt ein analytischer Rahmen für ein Krisenradar erarbeitet. Darüber hinaus werden am Beispiel des Gesundheitssystems die Verletzlichkeit und Krisenanfälligkeit komplexer Gesellschaften gegenüber neuen Pandemien, dem Klimawandel und Cyberattacken untersucht. Dabei kommen sog. ereignisbezogene Vulnerabilitätsanalysen zum Einsatz; d.h., es werden nach dem „Was wäre wenn"-Ansatz zunächst die Störereignisse, die Exposition des Systems und seine Sensitivität diesen Störereignissen gegenüber analysiert und daraus dann auf die Anpassungskapazität geschlussfolgert.

Zentrale Zwischenergebnisse des TAB–Projekts werden im Rahmen einer Fachveranstaltung am 22. Juni 2022 präsentiert und mit Blick auf die Frage diskutiert werden. wie bestehende Frühwarnsysteme weiterentwickelt oder aber neu aufgesetzt und institutionell verankert werden müssten, um systemische Risiken rechtzeitig zu erkennen. Eine leitende Annahme des Gesamtprojekts ist, dass Frühwarnsysteme in eine umfassende Resilienzstrategie eingebettet werden sollten/müssen, damit sie ihre Funktion effektiv erfüllen können. Der Mehrwert dieser Perspektive  liegt darin, Nachhaltigkeit, Resilienz und Transformation produktiv als eine Denkfigur für gesellschaftliche Entscheidungsfindungsprozesse miteinander zu verbinden. Eine der Hauptaufgaben liegt hier in der Übersetzung von Resilienzmodellen und Instrumenten in politikrelevante, konkrete Konzepte.

Aktuell wird im Rahmen des TAB-Projekts eine empirische Erhebung konzipiert, die Wahrnehmungen, Bewertungen und Sichtweisen der Bevölkerung zum Umgang mit der Coronakrise in den Mittelpunkt rückt. Dabei werden neue Spannungsfelder individueller und gemeinsinnorientierter bzw. sozialer Werte adressiert, aber auch die Rolle der Wissenschaft für die Politik. Die Sichtweisen der befragten Menschen in Deutschland werden erstmals in Form eines Audioformats via QR-Code in den als Publikation resultierenden TAB-Sensors eingebunden. So entsteht ein erweitertes multimediales TAB-Produkt, das im Frühling 2022 vorliegen wird. Der Endbericht ist für das Frühjahr 2023 vorgesehen.