Politikberatung ja, aber wie?

Anlässlich der von Wissenschaftsakademien kürzlich zur Diskussion gestellten „Wiener Thesen“ reflektiert Armin Grunwald das Verhältnis von Wissenschaft und Politik – und plädiert für ein in der TA gepflegtes „Denken in Alternativen“.
Porträt Armin GrunwaldS. Göttisheim / KIT

Armin Grunwald | 29. März 2023

In der wissenschaftlichen Beratung von Politik und Gesellschaft sind mittlerweile viele Institutionen und Akteure unterwegs. Die Akademien der Wissenschaft gehören in prominenter Position dazu, sollen sie doch die Stimme der Wissenschaft bündeln und daraus gesellschafts- und politikrelevante Schlussfolgerungen ziehen. In Deutschland sind dies vor allem die Nationale Akademie Leopoldina, die in der Corona-Pandemie mehrfach mit markanten Stellungnahmen und Forderungen aufgetreten ist, und die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech).

Vom wissenschaftlichen Anspruch auf Wahrheit...

Dies ist, anders als etwa in Großbritannien mit der Royal Society, noch nicht lange so. In Deutschland standen die Akademien der Wissenschaft traditionell der Politikberatung eher in akademischer Distanz skeptisch gegenüber und verstanden sich als Hüter der reinen Wissenschaft. Erst seit etwa der Jahrhundertwende übernehmen sie verstärkt, mittlerweile auch in prominenter Position, wissenschaftliche Politik- und Gesellschaftsberatung als Teil ihres Auftrags, teils auch unter Verwendung des Begriffs der Technikfolgenabschätzung (TA).

Freilich weist Politikberatung durch wissenschaftliche Akademien traditionell erhebliche Unterschiede zur TA auf. Als Gelehrtengesellschaften ist ihnen der partizipative und inklusive Grundgedanke der TA tendenziell fremd. Es ist vielleicht etwas überzogen, aber nicht falsch zu sagen, dass Akademien im Modus des Science knows best (Roger F. Pielke) arbeiten. Ihrem Selbstverständnis als wissenschaftliche Elite entspricht Politikberatung nach dem Motto „truth speaks to power“ mit der Wissenschaft als Hüterin der Wahrheit. Entsprechend liegt ein expertokratisches Verständnis von Politikberatung (Habermas) nahe: die wissenschaftliche Elite befindet darüber, was der Fall ist und was politisch getan werden soll, etwa in der Energiewende, zur Pandemiebekämpfung oder im Umgang mit genetischem Editieren. Diesem Ansatz entsprechen Sprachformen der Empfehlung von oder Forderung nach politischen Maßnahmen bis hin zu ihrer behaupteten Alternativlosigkeit. Das in der TA gepflegte „Denken in Alternativen“ ist diesem traditionellen Selbstverständnis der Akademien genauso fremd wie partizipative Elemente.  

Auf diese Weise entstehen immer wieder kantige Memoranden, Positionspapiere, Leitlinien und Stellungnahmen mit einer häufig beachtlichen Resonanz in der Gesellschaft. Freilich führt dies regelmäßig, z. B. mehrfach in Zeiten der Corona-Pandemie, zu kontroversen Diskussionen in Medien, Öffentlichkeit und Politik. Zum einen wird gerne überprüft, ob die Politik sich an die Empfehlungen der wissenschaftlichen Autoritäten hält – wenn nicht, wird regelmäßig Hohn oder auch Verachtung über Politik und Politiker/innen ausgegossen. Zum anderen sind in diesen Situationen aber auch Sorgen zu hören, hier werde das Mandat der Wissenschaften in Richtung auf eine Expertokratie überdehnt, ja gelegentlich wird der Verdacht geäußert, dass sich hinter dem behaupteten Wahrheitsanspruch doch eher handfeste eigene Interessen verbergen.

Jüngst haben die deutsche Nationale Akademie Leopoldina und die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit den „Wiener Thesen“ ein Diskussionspapier zum Verständnis ihrer akademischen Beratung von Gesellschaft und Politik veröffentlicht. Diese Thesen sind einerseits bemerkenswert, gemessen an dem skizzierten traditionellen Verständnis von Politikberatung, lassen andererseits aber auch Fragen offen und machen Unterschiede zur TA deutlich.

... zum Aufzeigen von Entscheidungsalternativen...

Der Einstieg mit These 1 ist ein Paukenschlag verglichen mit expertokratischen Anwandlungen. Statt die Wissenschaft als Hüterin der Wahrheit oder Wegweiserin für die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung einzuführen, wird ihr bescheiden die Rolle des „ehrlichen Maklers“ (Pielke) zugewiesen. Deutlich wird gesagt, dass politische Fragen eben nicht allein durch Zahlen und Fakten entscheidbar seien und dass deswegen Wissenschaft Entscheidungsalternativen aufzeigen und das Denken in Optionen befördern solle.

Es geht weiter mit Thesen, die in der TA wohl kaum anders formuliert würden. Wissenschaft solle informieren, aber nicht legitimieren (These 2). Die Rahmung der Probleme und Aufgaben wissenschaftlicher Politikberatung müsse hinterfragt werden. Hier sei Aufgabe der Wissenschaft, ggf. auch alternative Framings vorzuschlagen (These 3). Die Akademien betonen die Bedeutung von Interdisziplinarität und fordern, dass diese mehr als ein bloßes Nebeneinander von Fachkulturen sein müsse (These 4). In These 5 rücken sie von der Konsensorientierung ab und fordern die Offenlegung von Dissensen, gerade in Themen mit Unsicherheit und Kontroversen. Die Forderung nach Transparenz des Erkenntnisprozesses und der Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse (These 6) würde vermutlich in der TA ebenfalls geteilt, genauso wie die Wertschätzung von Wissenschaftskommunikation (These 7).

Dann jedoch zeigt sich ein wesentlicher Unterschied. These 8 ist betitelt „Wissenschaftsakademien wissen, wer wirklich Expertise hat“. Begründet wird dies damit, dass sie die „klügsten Köpfe“ seien und Zugriff auf das beste Wissen haben. Daher könnten sie auch am besten beurteilen, wer die „maßgeblichen Personen“ sind und wer in Beratungsgremien sitzen solle. Dieses Selbstbewusstsein geht damit einher, für sich selbst Unabhängigkeit zu beanspruchen, um „(partei)politischen Erwägungen und medialem Einfluss“ die „wissenschaftliche Exzellenz“ entgegen zu setzen.

Da ist es wieder, das Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Elite, die weiß, „wer wirklich Expertise hat“. Dass Expertise auch außerhalb der Akademien, sogar außerhalb der Wissenschaften anzutreffen ist, dass Expertise vielfältig ist und sich nicht in wissenschaftlicher Exzellenz erschöpft, dass es daher geraten sein könnte, partizipative Elemente an bestimmten Stellen von Beratungen vorzusehen, alles kein Thema. Hier ist die TA anders aufgestellt, bescheidener, aber auch selbstkritischer und offener in die Gesellschaft hinein.

Ein weiterer kritischer Punkt ist die beanspruchte Unabhängigkeit. Wissenschaft erfolgt in wissenschaftlicher Unabhängigkeit, ja sicher. Aber individuelle Wissenschaftler, auch Akademiemitglieder, haben selber wissenschaftliche oder auch institutionelle Interessen. Immer wieder fällt dies in Stellungnahmen wissenschaftlicher Akademien auf, wenn etwa die Behinderung von exzellenter Forschung aufgrund ethischer Fragen im Umfeld von Biotechnologie und Medizin befürchtet wird. Es ist legitim, dass Wissenschaftler auch Interessenvertreter in eigener Sache sind – schwierig wird es dann, wenn diese Interessen nicht mehr hinterfragt werden. Dazu findet sich leider in den Wiener Thesen kein Satz.

In wohlwollender Lesart könnte man dieses Thema in These 9 hineinlesen, wo es um selbstkritische Wissenschaft geht. Aber dort ist wohl etwas anderes gemeint, wie der Hinweis auf die Wissenschaftsforschung zeigt. Deren Aufgabe ist hauptsächlich die empirische Erforschung von Entwicklungen im Wissenschaftssystem. Kritische Reflexion wäre eher Aufgabe der Ethik. Diese wird nicht erwähnt, genauso wenig wie die TA.

... zu einem offeneren Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik

Trotz dieser kritischen Punkte dokumentieren die Wiener Thesen wichtige Schritte auf dem Weg zu einem offeneren Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik und zu einer im Vergleich mit expertokratischen Traditionen reflektierteren Position, vor allem in Richtung eines Denkens in Alternativen. Der frühere tiefe Graben zwischen wissenschaftlicher Politikberatung durch Akademien einerseits und TA andererseits wird ein ganzes Stück weit zugeschüttet.