Langzeit- und Querschnittsfragen in europäischen Regierungen und Parlamenten

  • Projektteam:

    Leonhard Hennen (Projektleitung), Thomas Petermann, Constanze Scherz

  • Themenfeld:

    Digitale Gesellschaft und Wirtschaft

  • Themeninitiative:

    Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

  • Analyseansatz:

    TA-Projekt

  • Starttermin:

    2000

  • Endtermin:

    2003

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Die Bearbeitung von Langzeit- und Querschnittsfragen stellt eine Reihe von Herausforderungen an die etablierten Routinen und die arbeitsteilige Organisation von Regierungen und Parlamenten: Es müssen langfristige gesellschaftliche Entwicklungstrends und langfristige Effekte von politischen Maßnahmen identifiziert und berücksichtigt werden. Politisches Handeln muss zwischen einer Vielzahl betroffener Ressorts abgestimmt werden. Ein hohes Maß an Abstimmung mit gesellschaftlichen Interessengruppen ist erforderlich, wenn langfristige politische Ziele verwirklicht werden sollen.

Gegenstand und Ziel der Untersuchung

Das im Auftrag des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 05. Juli 2000 begonnene TAB-Projekt verfolgte die Frage, welche Verfahren und Formen der Institutionalisierung (z.B. ressortübergreifende Programme, Schaffung spezialisierter wissenschaftlicher Einrichtungen, Untersuchungskommissionen, Sachverständigenräte, Foren der Kommunikation zwischen Politik und Gesellschaft) von europäischen Parlamenten und Regierungen in der Bearbeitung von Langzeit- und Querschnittfragen gewählt werden, um den genannten Herausforderungen gerecht zu werden. Ergänzend wurde vom TAB eine Bestandsaufnahme zu den in einer Reihe von europäischen Ländern bei den nationalen Parlamenten geschaffenen Beratungseinrichtungen für Technikfolgenabschätzung erarbeitet.

Ergebnisse

Institutionen zur Bearbeitung von Langzeit- und Querschnittsfragen

Die in der ersten Projektphase durchgeführte Bestandsaufnahme erfasste in 15 europäischen Ländern sowie der EU insgesamt 77 Institutionen, die sich mit der Bearbeitung von Langzeit- und Querschnittsfragen beschäftigen, und politikberatend für Parlamente und Regierungen tätig sind. Hierzu zählen parlamentarische Kommissionen, beauftragte externe Beratungs- und Forschungsinstitutionen, interministerielle Koordinationsgremien, ressortübergreifende Explorationsprogramme, speziell mit Langzeit- und Querschnittsfragen befasste Institutionen innerhalb des Regierungsapparates, Beratungsgremien unabhängiger Experten sowie mit Vertretern von gesellschaftlichen Interessengruppen besetzte konsultative Institutionen. Auffällig ist, dass die überwiegende Mehrzahl dieser Einrichtungen der Regierung zugeordnet ist, während nur zehn der erfassten Institutionen ausschließlich an Parlamenten angesiedelt sind.

Schlüsselt man die erfassten Institutionen nach dem vorrangigen Fokus ihrer Tätigkeiten auf, so zeigt sich, dass sich 37 dieser Einrichtungen – also nahezu die Hälfte – mit dem Thema Nachhaltige Entwicklung und/oder Umweltschutz befassen. 12 Institutionen bearbeiten Fragestellungen, die dem Thema Technikfolgen-Abschätzung zuzuordnen sind. Dies zeigt, dass insbesondere die Bemühungen um die sozial- und umweltverträgliche politische Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung mit Hilfe der Technikfolgen-Abschätzung, die Umweltpolitik sowie Anstrengungen zur Umsetzung von Strategien nachhaltiger gesellschaftlicher Entwicklungen in europäischen Parlamenten und Regierungen zur Etablierung neuer Institutionen und Verfahren zukunftsorientierter und ressortübergreifender Problemanalysen und Politikformulierung geführt haben.

Parlamentarische TA-Einrichtungen in Europa

Seit Mitte der 1980er Jahre sind bei einer Reihe von europäischen Parlamenten spezielle Einrichtungen zur Unterstützung der parlamentarischen Beratung von Fragen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und ihren gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen geschaffen worden. Die bestehenden zwölf parlamentarischen TA-Einrichtungen sind in unterschiedlicher Weise in das jeweilige Parlament integriert beziehungsweise an dieses angebunden:

  • Die TA-Einrichtungen des britischen (Parliamentary Office of Science and Technology, POST) und französischen Parlamentes (Office Parlamentaire d'Evaluation des Choix Scientifiques et Technologiques, OPECST) beispielsweise sind eng in die Verwaltungsstrukturen eingebunden.
  • In Dänemark (Teknologi-Radet – The Danish Board of Technology, DBT) und Deutschland (Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim deutschen Bundestag, TAB) sind die TA-Einrichtungen nicht Teil der Verwaltung, aber über einen Ausschuss an die politischen Gremien und ihre Arbeit gebunden.
  • Das Rathenau Institut in den Niederlanden ist weitgehend unabhängig und ohne formale Prozeduren oder Lenkungsgremien mit dem Parlament verbunden.

Trotz der Vielfalt der einzelnen Organisationsmodelle und der Unterschiede in den Zielprioritäten, sind alle Einrichtungen in ihrer Arbeit auf die Unterstützung der Parlamente in der Politikgestaltung und der Kontrolle von Regierungen und Verwaltungen sowie auf die Unterstützung der öffentlichen Diskussion über wissenschafts- und technikrelevante Themenstellungen orientiert.

Im Hinblick auf die Adressatenorientierung können grob zwei TA-Modelle unterschieden werden: das diskursive und das instrumentelle Modell. Ersteres legt den Fokus von TA auf die Funktion, öffentliche Debatten über Technologien anzustoßen. Es wird vor allem in Dänemark und den Niederlanden praktiziert. Zweiteres versteht TA als eine von Experten getragene Analyse, die Informationen und Optionen für die Politik bereitstellt. Diese TA-Aktivitäten sind hauptsächlich auf die informationelle Unterstützung des Parlaments ausgerichtet. Beide Modelle schließen einander nicht aus. So betont z.B. der Auftrag des TAB einerseits die Informationsfunktion für das Parlament und andererseits die Aufgabe, in den öffentlichen Diskurs über Wissenschaft und Technik hineinzuwirken. Parlamentarische TA dient somit nicht nur den Meinungsbildungsprozessen innerhalb der Parlamente, sondern übernimmt auch gestaltende Aufgaben in der Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern und der Verbindung von öffentlichem und parlamentarischem Diskurs.

Institutionen nachhaltiger Politik

Seit den 1990er Jahren haben zahlreiche Länder auf umweltpolitische Herausforderungen reagiert, Debatten um Nachhaltige Entwicklung forciert und entsprechende beratende und steuernde Gremien institutionalisiert.

Belgien, Großbritannien, die Niederlande, Finnland und Schweden zeichnen sich durch einen relativ fortgeschrittenen Nachhaltigkeitsprozess aus, in dessen Verlauf eine Reihe von institutionellen und prozeduralen Neuerungen in das politische System integriert wurde. In Dänemark ist die erfolgreiche Integration des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung in die Politik gelungen, ohne eigens neue, spezialisierte Institutionen zu schaffen. Vielmehr weist die dänische Nachhaltigkeitspolitik ausgeprägte informelle gesellschaftliche Kommunikations- und Abstimmungsprozesse auf.

Die unterschiedlichen Grade der Entwicklung von Nachhaltigkeitspolitik sind vor allem davon abhängig, welche Bedeutung Umweltpolitik im jeweiligen nationalen Kontext zukommt. Langjährige Erfahrungen in der Umweltpolitik und eine starke Stellung des Umweltressorts erleichtern die Adaption des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung und die Umsetzung entsprechender Maßnahmen. Des Weiteren scheint eine offene politische Kultur mit starken konsultativen Elementen die Integration partizipativer Beratungsformen, wie sie für die Formulierung und Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen nötig sind, zu erleichtern. In Ländern mit einer ausgeprägten Tradition aktiven staatlichen Handelns besteht auf Seiten der Regierung eher die Bereitschaft, nationale Nachhaltigkeitsprozesse zu initiieren als in solchen mit einer eher defensiven Rolle staatlicher Politik.

Die langfristige Orientierung der Politik und die Formulierung entsprechender Ziele haben in allen Ländern durch die Nachhaltigkeitspolitik einen neuen Impuls enthalten. Das Bewusstsein für langfristige und ressortübergreifende Politikformulierung wurde geschärft und hat zu neuen Formen von »Governance« geführt. Konkrete Maßnahmen zur Umsetzung sind aber vielfach erst in Ansätzen realisiert. Die erfolgreiche Integration des Leitbildes in die nationalen Politiken ist in der Regel verbunden mit der Schaffung von Institutionen, die mit der expliziten Umsetzung des Leitbildes Nachhaltige Entwicklung beauftragt sind. Dies ist durch die Einrichtung von Nachhaltigkeitsräten, Task Forces in einzelnen Ministerien oder speziellen Staatssekretärsausschüssen vielfach bereits erfolgt. Allerdings bewegt die Schaffung von neuen Institutionen allein wenig, wenn diese Institutionen nicht mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet sind. Anderenfalls läuft Nachhaltigkeit Gefahr, als Sonderaufgabe entsprechender Räte und Kommissionen neben dem politischen Alltagsgeschäft leer zu laufen und gerade nicht als Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen verankert zu sein.

Ferner steht oft die mangelnde Ausstattung der geschaffenen Institutionen mit eigenen finanziellen und personellen Ressourcen einer effektiven Entwicklung von Strategien und der Implementierung entsprechender Maßnahmen im Wege. Die Verankerung der mit nachhaltiger Entwicklung verbundenen langfristigen Aufgaben im Bewusstsein wichtiger gesellschaftlicher Akteure und der breiten Öffentlichkeit ist in den meisten Ländern nur ansatzweise gelungen.

Parlamente in der Nachhaltigkeitspolitik

Für alle untersuchten Länder zeigt sich, dass sowohl die Initiative als auch die Fortentwicklung von Nachhaltigkeitspolitik im Wesentlichen von der Exekutive getragen werden. Auf Regierungsebene hat Nachhaltigkeitspolitik zu neuen administrativen Strukturen (spezifische Kontrollkompetenzen des Umweltministeriums) und zur Einsetzung neuer Institutionen geführt (z.B. Nachhaltigkeitsräte und Task Forces für Nachhaltigkeit in den Ministerien). Demgegenüber scheint die Rolle der Parlamente eher in der reaktiven Begleitung und Unterstützung von Nachhaltigkeitspolitik zu liegen. Wegen der zu berücksichtigenden langfristigen Zeithorizonte, der Komplexität der Probleme und Aufgaben und des damit verbunden hohen gesellschaftlichen Beratungs- und Abstimmungsbedarfes dürfte das Potenzial des Parlamentes als Ort öffentlicher Beratung und Kontrollinstanz der Exekutive aber noch nicht ausgeschöpft sein. Hier ergäben sich für das Parlament im Hinblick auf den Nachhaltigkeitsprozess folgende Aufgaben:

  • Begleitung der Arbeiten der Regierung zum Thema Nachhaltigkeit und Kontrolle der Regierungsarbeit unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrages zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung (anhand von Nachhaltigkeitszielen und Indikatoren)
  • Mitwirkung bei der Weiterentwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien in inhaltlicher Hinsicht (Definition von Nachhaltigkeitszielen und Maßnahmen, Anregung von Gesetzgebung mit besonderer Relevanz für Nachhaltigkeitspolitik)
  • Anregung und Unterstützung der gesellschaftlichen Diskussion zur nachhaltigen Entwicklung durch die prominente und öffentliche Behandlung von Nachhaltigkeitsfragen und die Verankerung von Nachhaltigkeitsprinzipien, wie z.B. Partizipation und Kommunikation in der Arbeit der parlamentarischen Organe und Gremien (Ausschüsse, Anhörungen, Enquete-Kommissionen).

Mit den Arbeiten der Enquete-Kommission »Schutz des Menschen und der Umwelt« hat der Deutsche Bundestag einen im Vergleich zu den Parlamenten anderer Länder herausragenden Beitrag zur nationalen Nachhaltigkeitspolitik geleistet. Es ist aber eine Reihe von Maßnahmen vorstellbar, die geeignet sein könnten, seine Rolle in der deutschen Nachhaltigkeitspolitik weiter zu stärken. Die möglichen Optionen reichen etwa von einer stärkeren Nutzung z.B. des Budgetrechtes zur Kontrolle von Regierungsprogrammen und Gesetzesvorlagen bezüglich ihres Beitrages zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung, über regelmäßige Plenardebatten zum Stand der deutschen Nachhaltigkeitspolitik bis hin zu einer weitgehenden Verankerung des Themas Nachhaltigkeit im Parlament durch Einrichtung eines speziell mit Nachhaltigkeits- und Zukunftsfragen befassten Ausschusses.

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