Bakteriophagen T4 infizieren einige BakterienAndreus@123rf.com

Bakteriophagen in Medizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft – Anwendungsperspektiven, Innovations- und Regulierungsfragen

Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 206 wurde vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 05. Juli 2023 abgenommen. Erscheinungsdatum: 18. Juli 2023

Bakteriophagen bieten Chancen zur Bekämpfung multiresistenter Keime

Ergebnisse aus der Innovationsanalyse

Antibiotikaresistenzen sind weltweit ein Problem für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt (One Health) und stellen auch das deutsche Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Bakteriophagen erscheinen als eine relevante Option zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Bakterien in der Humanmedizin, im Pflanzenbau, der Nutztierhaltung oder der Lebensmittelverarbeitung und -haltbarmachung.

Mögliche Nutzung von Phagen in der Medizin und in der Land und LebensmittelwirtschaftTAB

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Worum es geht

Bakteriophagen (oder kurz Phagen) sind Viren, die bestimmte Bakterien gezielt angreifen und zerstören können. Sie gelten als die am häufigsten vorkommenden biologischen Einheiten auf der Erde und kommen zusammen mit Bakterien in allen Lebensräumen vor, darunter auch in großer Zahl in Tieren und Menschen (vor allem in deren Darmtrakt). Phagen wurden bereits vor über 100 Jahren entdeckt und als Option zur Bekämpfung bakterieller Infektionen insbesondere bei Menschen, aber auch bei Tieren und Pflanzen, erforscht und angewendet. In einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und in Polen sind Phagen kontinuierlich als zugelassene Medikamente oder für personalisierte bzw. experimentelle Behandlungen chronischer und antibiotikaresistenter Infektionen in der Humanmedizin eingesetzt worden. Im Gegensatz dazu wurden Phagen in den westlichen Industrieländern seit den 1940er Jahren nach dem Verfügbarwerden von Antibiotika lange Zeit kaum noch medizinisch genutzt.

Insbesondere angesichts der weltweit wachsenden Problematik von Antibiotikaresistenzen für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt werden Phagen wieder als eine Möglichkeit zur Bekämpfung krankheitsauslösender Bakterien bzw. bakterieller Infektionen sowohl in der Medizin als auch in der Land- und Lebensmittelwirtschaft diskutiert. So wurden Phagen etwa ab Beginn der 2000er Jahre zur Therapie von auf Antibiotika nur schlecht oder gar nicht mehr ansprechenden Infektionen von Forscher/innen, Ärzt/innen, Patient/innen sowie, insbesondere seit Mitte der 2010er Jahre, von einigen jungen Biotechnologieunternehmen wieder in den Blick genommen. Allein in Deutschland starben 2019 mehr als 45.000 Menschen im Zusammenhang mit antibiotikaresistenten Infektionen, also im Durchschnitt alle 12 Minuten ein Mensch. In den westlichen Industrieländern gibt es bisher jedoch noch kein als Medikament zugelassenes Phagenpräparat, und Phagen können derzeit nur unter Ausnahmebedingungen in Einzelfällen eingesetzt werden, wenn keine verfügbaren Medikamente mehr wirksam sind. Auch für eine Nutzung in der Land- und Lebensmittelwirtschaft werden Bakteriophagen zunehmend erforscht. Dort sind einige kommerzielle Präparate verfügbar bzw. nutzbar, jedoch überwiegend außerhalb der EU.

Die im Vergleich zu synthetischen bzw. chemischen Substanzen besonderen Eigenschaften von Phagen stellen allerdings sowohl die Entwicklung als auch die Zulassung wirksamer Medikamente und kommerzieller Produkte zur Bekämpfung von Bakterien entlang der Lebensmittelkette vor besondere Herausforderungen. Um das vorhandene vielfältige Potenzial von Phagen in diesen Bereichen besser eruieren und zukünftig in größerem Umfang nutzen zu können, müssten neben wissenschaftlich-technischen Fragen vor allem rechtliche und innovationspolitische Fragen adressiert werden.

Handlungsbedarfe und -möglichkeiten

Insbesondere die Eigenschaften, antibiotikaresistente Bakterien zerstören und auftretende bakterielle Phagenresistenzen relativ einfach und schnell überkommen zu können, machen Phagen-basierte Produkte zu einer relevanten Möglichkeit im Kampf gegen die Probleme und Herausforderungen durch Antibiotikaresistenzen für die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt (One Health). Es erscheint daher geboten, die Potenziale dieser Option stärker zu eruieren und zu nutzen.

Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass sich die Nutzung von Phagen für die humanmedizinische Phagentherapie oder für land- und lebensmittelwirtschaftliche Anwendungen in der EU oder in Deutschland besser als bisher bzw. in größerem Umfang etablieren wird.

Dafür wäre eine Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen hin zu größerer Passgenauigkeit und Flexibilität, eine umfassendere Förderung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sowie ggf. die Schaffung wirtschaftlicher Anreizstrukturen erforderlich.

Phagentherapien in der Humanmedizin

Ohne Marktzulassung als Arzneimittel können Phagen nur in besonderen Einzelfällen genutzt werden, wenn keine wirksamen Medikamente verfügbar sind. In Deutschland wurden einige solche Behandlungen an wenigen Kliniken durchgeführt und dokumentiert. Obwohl Wirksamkeitsnachweise durch größere klinische Studien nach modernen Standards immer noch fehlen, legen es bisherige klinische Erfahrungen (insbesondere aus Fallstudien einzelner Patient/innen) nahe, dass Phagen eine wichtige Option vor allem zur Behandlung antibiotikaresistenter Infektionen darstellen können – besonders dann, wenn Phagenpräparate patientenspezifisch auf die jeweiligen Erreger abgestimmt werden.

Neben wissenschaftlich-technischen Fragen, die durch die Förderung einer diversen FuE-Landschaft sowie durch spezifische Forschungsprogramme adressiert werden können, stellen sich für eine erfolgsversprechende Entwicklung der Phagentherapie zum einen regulatorische Herausforderungen. Diese beruhen auf einem unflexiblen, weitgehend auf unveränderliche Wirkstoffkombinationen und Standardtherapien ausgerichteten Zulassungsrahmen in der EU. Zum anderen müssten die FuE-Kosten für die erfolgversprechendsten (personalisierten) und einen potenziell besonderen Nutzen aufweisenden Phagentherapien, d. h. für Infektionen, die konventionell nur schwer oder gar nicht mehr durch Antibiotika behandelt werden können, über Behandlungen von relativ kleinen Patientengruppen erwirtschaftet werden.

Um eine breitere, vielfältigere Entwicklung von Phagenprodukten mit Marktzulassung als bisher zu fördern bzw. zu ermöglichen, dürften daher sowohl Anpassungen im europäischen Regulierungsrahmen als auch wirtschaftliche Anreizregelungen für neue antimikrobielle Medikamente erforderlich sein.

Die dazu nötigen Anpassungen auf EU-Ebene könnten jedoch langwierig sein oder scheitern. Oder mögliche Zulassungsanpassungen könnten sich als zu unflexibel erweisen, um Formen von Behandlungen, für die neue Phagen patientenspezifisch isoliert werden müssten, zu ermöglichen. Deshalb erscheint es parallel dazu geboten, EU-rechtlich mögliche Ausnahmen in Deutschland so auszugestalten, dass Phagentherapien in besonderen Bedarfsfällen für eine größere Zahl an Patient/innen als bisher zugänglich werden. Hierzu könnte insbesondere eine praxisnahe Anpassung nach belgischem Vorbild einen wichtigen Beitrag leisten, um die Behandlung einzelner Patient/innen mit in spezialisierten Apotheken individuell hergestellten Phagenpräparaten (magistrale Phagenpräparate) zu erleichtern.

Phagenanwendungen in der Land- und Lebensmittelwirtschaft

In der EU und in Deutschland können Phagenpräparate ohne Kennzeichnung und Zulassung nur als Verarbeitungshilfsstoffe in der Lebensmittelverarbeitung eingesetzt werden. Verlässliche Zahlen zur tatsächlichen Nutzung gibt es nicht. Außerhalb der EU werden einige kommerzielle phagenbasierte Produkte genutzt, die ein breites Einsatzspektrum abdecken (z. B. zur Bekämpfung von bestimmten Pflanzenkrankheiten, zur Oberflächendekontamination von tierischen Lebensmitteln). Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen erscheint es jedoch unrealistisch, dass sich die Nutzung von Phagenprodukten in absehbarer Zukunft in der landwirtschaftlichen und industriellen Praxis auch in der EU in größerem Umfang etablieren wird. Besonders mit Blick auf Lebensmittelinfektionen und Antibiotikaresistenzen sollten Bakteriophagen aber als Option in Betracht gezogen und weiterentwickelt werden.

Neben den zu lösenden wissenschaftlich-technischen Problemen bei der Entwicklung von Phagenpräparaten für den Praxiseinsatz gelten die meist noch auf einzelne, definierte Chemikalien ausgerichteten rechtlichen Rahmenbedingungen als ein großes Hemmnis. Die resultierenden Anforderungen für die Zulassung von Phagenprodukte sind oft unklar und stellen insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, die derzeitigen Hauptakteure bei der Entwicklung kommerzieller Anwendungen, vor große Herausforderungen.

Primär bedürfte es deshalb politischer Initiativen bzw. Unterstützung, um die Regulierung in allen Anwendungsbereichen zu überprüfen und ggf. durch Ergänzung spezieller Leitlinien zu Phagen weiterzuentwickeln. Die Klärung der Bedingungen zur Nutzung könnte vielfältige Anwendungen sowohl in der landwirtschaftlichen Produktion (Tierarznei- und Pflanzenschutzmittel) als auch im Nacherntebereich bei der Lebensmittelverarbeitung und -haltbarmachung ermöglichen.

Darüber hinaus könnte die Förderung von längerfristigen Forschungsinitiativen sowie Vernetzungsaktivitäten – unter Einbeziehung von entwickelnden Forschungseinrichtungen, Unternehmen und anwendenden Betrieben – zu einem Aufbau von Kapazitäten und Kompetenzen beitragen. Solche Initiativen sollten nicht zuletzt auch Fragen der Sicherheitsforschung, wie die potenzielle Verbreitung von Phagenresistenzen infolge einer breiten Nutzung von Bakteriophagen, in den Blick nehmen.

Download der Innovationsanalyse

Cover: TAB-Arbeitsbericht 206: Bakteriophagen in Mediizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft

TAB-Arbeitsbericht Nr. 206

Bakteriophagen in Medizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft – Anwendungsperspektiven, Innovations- und Regulierungsfragen. Innovationsanalyse (PDF)


doi:10.5445/IR/1000160512

 

Der TAB-Bericht bietet einen umfassenden Überblick über den Stand der Entwicklung sowie die Einsatzmöglichkeiten von Bakteriophagen in Medizin, Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft und analysiert die unterschiedlichen regulatorischen Rahmenbedingungen. Daraus werden wissenschaftlich-technische, wirtschaftliche, innovationspolitische und rechtliche Herausforderungen und Handlungsoptionen zur Förderung und Weiterentwicklung der Phagennutzung abgeleitet und detailliert beschrieben. Damit bietet der TAB Bericht eine aktuelle und fundierte Informationsgrundlage zu diesem forschungs-, gesundheits-, agrar- und umweltpolitisch wichtigen Themenfeld.     

Cover: TAB-Fokus Nr. 43: Bakteriophagen in der Medizin und in Land- und Lebensmittelwirtschaft

TAB-Fokus Nr. 43
Bakteriophagen in Medizin, Land- und Lebensmittelwirtschaft – Anwendungsperspektiven, Innovations- und Regulierungsfragen. TAB-Fokus (PDF)


doi:10.5445/IR/1000160617

 

Der TAB-Fokus bietet auf vier Seiten einen kompakten Überblick über Inhalt und Ergebnisse des gleichnamigen TAB-Arbeitsberichts Nr. 206.  

 

TAB-Fokus no. 43 (in English)
Bacteriophages in medicine, agriculture and food industry – application perspectives, regulatory and innovation issues (PDF)


doi:10.5445/IR/1000161932           

Im Bundestag

In den Medien

  • aerzteblatt.de (26.01.2024) Eine Zukunft mit Phagen? Das Potenzial von Phagen bei der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen sollte stärker genutzt werden. Zu diesem Schluss kommen Berichte aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Ein aktueller Gesetzgebungsprozess wird entscheiden, ob Richtlinien ihre Nutzung in der EU weiter behindern werden.
  • nd-aktuell.de (24.08.2023) Virus kontra Bakterium. Phagen sind vielversprechend im Kampf gegen antibiotikaresistente Keime, aber noch ist die Anwendung weit entfernt.
  • taz.de (21.08.2023) Phagen als Alternative zu Antibiotika: Resistent gegen Resistenzen. Antibiotikaresistenzen fordern immer mehr Todesopfer. Hoffnung macht die Phagentherapie – eine im Westen fast unbekannte Heilmethode.
  • vdi-nachrichten.com (+) (09.08.2023) Mit Bakteriophagen gegen Krankenhauskeime: Chancen und Hürden im Überblick.
  • spektrum.de (27.07.2023) Blasenentzündung: Mit Phagen gegen resistente Krankheitserreger. 
  • fr.de (27.07.2023) Behandlung mit Phagen könnte eine Alternative zu Antibiotika sein. 
    Noch dürfen Phagen – spezielle Viren – in der EU nicht eingesetzt werden. Fachleute plädieren dafür, die geltenden Richtlinien zu ändern.
  • ardaudiothek.de (23.07.2023) Viren gegen Bakterien.
    Mit Harald König zur Bakteriophagen-Studie, ab Minute 12:20
  • dw.com (21.07.2023) Bakteriophagen vs. Antibiotika: Mit Viren gegen Resistenzen
  • sueddeutsche.de (20.07.2023) Antibiotikaresistenzen: Kampf der Winzlinge. 
    Seit Langem wird an Bakteriophagen geforscht: Viren, die Bakterien bekämpfen können, wenn Antibiotika versagen. Doch eingesetzt werden sie nur in Ausnahmefällen. Ließe sich das ändern?
  • br.de (20.07.2023) Phagen gegen Antibiotikaresistenzen: Mehr Forschung gefordert. 
    Im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen hat die Medizin ein altes Heilmittel neu entdeckt: die Bakteriophagen, kurz Phagen. Experten fordern jetzt mehr Forschung dazu. Das Besondere an Bakteriophagen und warum ihr Einsatz noch schwierig ist.
  • br.de (19.7. 2023/14.08.2023) Bakteriophagen: Bundestagsexperten empfehlen Förderung. Audiobeitrag (14:08)  u.a. mit TAB-Berichtautor Harald König.
  • sciencemediacenter.de (18.07.2023) Bakteriophagen als Alternative zu Antibiotika.
    Das SMC hat Forschende gebeten, die Hürden und Anwendungsperspektiven von Phagen in der Medizin sowie die im TAB-Bericht vorgeschlagenen Maßnahmen einzuschätzen.
  • heise.de (18.07.2023) Empfehlung von Expertenrat: Heilende Phagen schneller in die Praxis bringen.